Sozialreformerische Bewegung
für den Bau von Genossenschaftssiedlungen

Wien, Österreich
1919 – 1929/1933
7000 Siedler*innenhäuser bis 1933

Als Selbsthilfebewegung gegen die Wohnungsnot nach dem ersten Weltkrieg richtete sie sich vor allem an proletarische Familien in Wien. Ihr Ziel war der Aufbau von genossenschaftlich organisierten Siedlungen am Stadtrand, um dem Elend der Mietskasernen und Hinterhöfe zu entkommen. Auch für arme Arbeiter*innen bezahlbar wurden die “Siedlerhäuser” vor allem durch den hohen Anteil an Selbstbauleistung, sowie die solidarische Organisation von Baumaterialien und Fachkräften innerhalb eines Netzwerks sozialistischer Organisationen. Nach einer ersten Phase spontaner Besetzungen entstand in kurzer Zeit eine komplexe nichtstaatliche Organisation der Bautätigkeit, die sich als Teil der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung verstand. Ihr Ziel war nichts weniger als der “Neuaufbau der Gesellschaft von unten”.

Die Organisationsstruktur und die weitgesteckten Ziele der Bewegung zeigen deutlich, dass gerade eine erfolgreiche Bewegung ‘von unten’ auf drei wesentliche Dinge angewiesen ist:

Die Organisierung tatkräftiger und solidarischer Netwerke.

Über das Interesse der Einzelnen an günstigem Wohnraum hinausgehende politische und Ansprüche, welche ihre Forderungen verallgemeinerbar machen.

Einfluss/ Zugriff auf staatliche Institutionen und Mittel wie etwa ein über direkte Steuern finanziertes Sondervermögen.

 

 

 

Stadt bezahlbar für Alle? Wer bezahlt?

Weniger Abhängigkeit von privatem Kapital und Bauwirtschaft durch solidarisch organisierten Selbstbau und Vernetzung in einem alternativem Wirtschafts-
kreislauf. Notwendig für die Bautätigkeit ohne Kreditaufnahme bei privaten Banken war ab 1923 die “zweckgebundene Wohnbausteuer”, welche gestaffelt auf alle Mietobjekte erhoben wurde.
Stark gefallene Bodenpreise ermöglichten außerdem den günstigen und massenhaften Erwerb von Baugrundstücken durch die sozialistisch regierte Gemeinde Wien. Genossenschaftliche Betriebe, so­wie die Eigenarbeit der künftigen Siedler*innen selbst erlaubten es schließlich, die Baukosten unter kapitalistischen “Marktpreisen” zu halten.

Wer entscheidet was?

Die “Siedlungs-, Wohnungs- und Baugilde Österreichs” stellte die österreichische Form des in England entstandenen Gildensozialismus dar – der Versuch eines Mittelwegs zwischen Staatssozialismus und Arbeiter*innenselbstorganisation ( Syndikalismus). Ohne den Einfluss einer großen Anzahl organisatorisch erfahrener Menschen und bereits vorhandener Massenorganisationen der Arbeiter*innenbewegung, wäre die derart rasante Entfaltung der Bautätigkeit unmöglich gewesen. Vielleicht war dieser Organisationsfetischismus verantwortlich für die bereits darin vorweg genommene, spätere Institutionalisierung durch den (sozialdemokratisch regierten) Staat in den 20er-30er Jahren. Selbstorganisierung war darin nicht mehr vorgesehen.

Wieso, Weshalb, Warum?

Kampf für besseres Wohnen als Teil des Kampfes für ein besseres Leben für alle! Erklärtes Ziel der “Siedlungs,- Wohnungs- und Baugilde Österreichs” war nichts weniger als die Ausschaltung des privaten Baugewerbes und privaten Mietshausbesitzes. Damals in Wien durchaus ein realistisches Programm. Wohnungs- und Siedlungsbau waren dabei Schritte auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft. Alle Werktätigen und alle Lebensbereiche der Produktion, des Konsums und der Kultur sollten genossenschaftlich organisiert werden. Gemeinschaftliches Arbeiten und Leben an und in den Siedlungen wurde als Teil davon verstanden.

... und wie kam es dazu?

Privates Land in Siedler*innenhand:
Nach einer ersten Phase der “wilden Siedelei” auf besetzten Grundstücken, entstanden auf kommunal finanziertem Grund bis 1923 ca 3000 genossenschaftliche Siedlungen im Erbbaurecht. Mit Einführung der Wohnbausteuer ab 1923 förderte die Gemeinde Wien die Siedler*innenbewegung anfangs noch mit Baumaterialien und Grundstücken , legte ab 1924 jedoch ihr eigenes parallel laufendes Wohnungsprogramm auf. Hierbei umging sie die basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen der Genossenschaften. Neben nun völlig veränderten Finanzierungsmöglichkeiten verfügte die Gemeinde auch über eine Architekturideologie, die immer größere Siedlungen und Wohnblocks forderte. Dabei wich die Selbstverwaltung in Siedlergenossenschaften der kommunalen Fremdverwaltung.

Wem gehört die Stadt?

Genossenschaftliches oder staatliches Eigentum mit privater Bewirtschaftung und Nutzung und dazu eine gemeinsam bewirtschaftete Gemeinschaftsfläche. Die Siedler*innenhäuser sind Teil einzelner Genossenschaften, den “Siedlungen”. Die Bewohner*innen haben durch ihre bezahlten oder als Arbeitsleistung erbrachten Genossenschaftsanteile Anteil am Genossenschaftseigentum und damit auch am Haus, für dass sie ein vererbbares Wohnrecht besitzen. Die Grundstücke befinden sich jedoch meist städtischem Eigentum, welches die Genossenschaften im Erbbaurecht pachten. Jede Siedlung verfügt über ein gemeinschaftliches “Genossenschaftshaus”, während landwirtschaftliche Pazellen “privat” bewirtschaftet werden.


Quellen:

  • Kerstin Enn: Der Wandlungsprozess von den frühen genossenschaftlich organisierten Siedlungen zum kommunalen Wohnungsbau, 2011
  • Klaus Novy: Selbsthilfe als Reformbewegung. Der Kampf der Siedler nach dem 1. Weltkrieg. In: Arch+ 55, Kampf um Selbsthilfe, 1. Februar 1981, S. 27–40.

 

Recherche von Konrad Wolf
Grafiken – sofern nicht anders gekennzeichnet – von Konrad Wolf
im Rahmen des Projektlabors Selbstverwaltet Kommunal
Mit Dank an: Andres Rumfhuber für Anmerkungen und kritische Durchsicht